Unsere Forderung anlässlich einer Tandem-Demo in 2020: Patenschafts- und Mentoring-Angebote für Kinder und Jugendliche in Berlin brauchen eine sichere Zukunft!

Im Tandem weiterkommen – und nicht gegen die Wand fahren

 

Patenkinder, Mentees, ehrenamtliche Pat*innen und Mentor*innen sowie Vereine demonstrierten am 19. September 2020 für bessere und vor allem verlässlichere Rahmenbedingungen für die außerschulische Förderung nach dem Tandem-Prinzip.

 

Ob Bildung, Gesundheit oder Integration: Patenschaften und Mentoringbeziehungen sind ein vielseitig wirksames Förderinstrument. Wie eine Studie kürzlich zeigte, sorgen sie etwa für mehr Chancengerechtigkeit bei Schulkarrieren. Deshalb empfehlen Wissenschaftler*innen, diese Methode vermehrt einzusetzen. Auch bei den direkt Beteiligten sind Patenschaften beliebt: bei Kindern, die neue Anregungen bekommen, bei Eltern, die entlastet werden, und bei den Freiwilligen, die im Einsatz für ein Kind ein sinnvolles Engagement finden. 

Doch die Projekte, die solche Förderbeziehungen stiften und betreuen (sogenannte 'Tandems', gebildet aus einem Kind/Jugendlichen und einem engagierten Erwachsenen), stehen finanziell auf wackligen „Rädern“. Selbst bewährten Anbietern droht immer wieder das Aus und in den letzten Jahren wurden immer wieder Programme geschlossen. Es gibt keinerlei Modelle längerfristiger Finanzierung. Zudem reichen die Fördermittel oft nicht aus, um genügend Patenschaften stiften und langfristig begleiten zu können. 

 

Darum rief das Netzwerk Berliner Kinderpatenschaften e.V. am 19. September 2020 zu einer Demonstration auf: Patenkinder, Mentees, Pat*innen und Mentor*innen sowie Hauptamtliche der Organisationen und Fürsprecher*innen fuhren dabei auf 'richtigen' Tandemfahrrädern in Richtung Potsdamer Platz und machen sich für diese wirkungsvolle Methode stark – getreu dem Motto des Netzwerks „zusammen sind wir stärker und lauter“. 

 

„Wir wissen und wollen zeigen, was alles in Eins-zu-Eins-Patenschaften und -Mentoringbeziehungen steckt“, erklärte Florian Amoruso-Stenzel, Vorstand des Netzwerks. „Wer die Vorteile für Bildung, Gesundheit und Integration kennt, weiß, dass Patenschaften ein wirkungsvoller und unumgänglicher Baustein für ein gerechteres Berlin sind. Es muss mehr jungen Menschen als bisher möglich sein, einen Paten oder eine Mentorin zu erhalten. Berlin hat beides: viele Erwachsene, die etwas weiterzugeben haben, und viele junge Menschen in kritischen Lebensumständen. Einmal zusammengebracht, kann der eine den anderen stärken. Es wäre fatal, dieses Potenzial zu verspielen. Doch leider lassen die politischen Rahmenbedingungen das Tandem-Modell gerade gegen die Wand fahren.“

 

Deshalb fordert das Netzwerk Berliner Kinderpatenschaften nicht nur mehr Aufmerksamkeit, sondern auch ein bessere Ökosystem für diese vergleichsweise kostengünstige Methode Mentoring und Patenschaften. Dies bedeutet konkret, dass es dringend verlässliche und langfristige Finanzierungsmodelle für Mentoring- und Patenschaftsprogramme geben muss, so das Netzwerk. Denn nur so können die Anbieter fürsorgliche und vertrauensvolle Rahmenbedingungen für die tausenden Berliner Patenschafts- und Mentoringbeziehungen sicherstellen und bürgerschaftliches Engagement für benachteiligte Kinder und Jugendliche als ergänzende Kraft ausbauen und pflegen! Denn Patenschaftsbeziehungen stiften Begegnungen zwischen Menschen aus verschiedenen Lebenswelten, Milieus, Kulturen und Generationen. Begegnungen, von denen unsere Stadt zurzeit mehr denn je profitieren würde.

 

Seit 2012 gibt es das Netzwerk Berliner Kinderpatenschaften, einen gemeinnützigen Dach- und Fachverband, der aktuell 38 Mitglieder hat. Gab es 2005 nur eine Handvoll Anbieter, hat sich die Zahl der Träger und Projekte bis heute etwa verzehnfacht.

 

Aktuell begleiten sie in nahezu allen Bezirken über 2.000 Patenschaften bzw. Mentoring-Beziehungen im Jahr. Dabei fördert ein freiwillig engagierter Erwachsener einen jungen Menschen, mal mehr bei gemeinsamer Freizeitgestaltung, mal mehr in schulischen Angelegenheiten oder Fragen der Ausbildung. Zu den Zielgruppen von Patenschaften bzw. Mentoring gehören häufig Kinder aus so genannten Risikolebenslagen, die sozioökonomisch besonders belastet sind. Zudem haben viele von ihnen einen Migrations- oder Fluchthintergrund, was aufgrund von Sprachbarrieren und nur geringen Kenntnissen des deutsches Bildungssystems, die Lage zusätzlich erschwert. Auf Seiten der Freiwilligen sind die Motivationen vielfältig: Engagierte wollen etwas zurückgeben oder hätten sich früher selbst derartige Unterstützung gewünscht. Manche Freiwillige sind Studierende, andere kinderlose Erwachsene oder haben selbst Migrations- oder Fluchterfahrung.

 

Wissenschaftliche Befunde und Perspektiven

 Gerade erschienen ist eine aufwändige randomisierte Studie u.a. von der Universität Bonn. Geleitet vom renommierten Verhaltensökonomen Armin Falk zeigt sie: Sozial benachteiligte Kinder, die ein Jahr lang von Mentor*innen in ihrer Freizeit begleitet wurden, haben eine um 20 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, später auf das Gymnasium zu kommen, verglichen mit einer Kontrollgruppe von Gleichaltrigen in gleicher Lage ohne Mentor*in. Dabei handelt es sich um eine Langzeitwirkung, denn das Mentoring war ein bis zwei Jahre zuvor erfolgt. 

Das Fazit der Forscher*innen Armin Falk, Fabian Kosse und Pia Pinger: 

  • „Mentoring kann die Bildungschancen von Kindern erheblich verbessern. (…) Kinder, die von einem qualifizierten Mentor und durch ein Programm zur Förderung des informellen Lernens und der psychosozialen Entwicklung unterstützt werden, erzielen bessere Beurteilungen durch ihre Lehrer, und das (Mentoring-)Programm steigert auch das Vertrauen der Eltern in ihre Kinder.“

Viele andere Wissenschaftler*innen führen Theorien und verwandte Forschungsergebnisse an, um die immense Relevanz von Patenschaften zu erklären. So sagt etwa der bekannte Schweizer Entwicklungspsychologe Remo Largo in einem Interview:

  • „Weil so vielen Kindern Bezugspersonen fehlen, können Patenschaften eine wichtige Lücke füllen.“

Die Potsdamer Erziehungswissenschaftlerin Annedore Prengel sagt in einem demnächst veröffentlichten Interview: 

  • „Vertrauenspersonen wie Paten oder Mentorinnen können den entscheidenden Unterschied machen (für Kinder, die in der Schule Schwierigkeiten haben). Die Patenschaftsinitiativen sind viel zu wenig bekannt! Angesichts der großen Bedeu­tung, die eine Patenschaft für Heranwachsende haben kann, sollte das einen anderen Stellenwert einnehmen – und aus politischer Sicht unbedingt unterstützt werden.“

Über Ergebnisse der Mentoring-Forschung in anderen Ländern berichtet das Netzwerk Berliner Kinderpatenschaften e.V. regelmäßig in seinem Fachbrief „Telemachos“ hier.

 

Die Bedeutung der Qualität der Arbeit

Patenschaften und Mentoring-Beziehungen zu stiften und zu begleiten ist eine anspruchsvolle, oft unterschätzte Arbeit. Die Auswahl, Vorbereitung und Zusammenführung der Tandems verlangt ein sorgfältiges und umsichtiges Vorgehen, nicht nur aus Gründen des Kinderschutzes, sondern auch um den Erfolg sicherzustellen. Wie Forschung insbesondere in den USA zeigt, hängt die Zufriedenheit der Beteiligten wie die Wirksamkeit davon ab, welche Qualität das Programm hat, das alle nötigen Schritte organisiert. Bei schlechter Umsetzung können die Beteiligten auch Schaden nehmen.

 

Die Frage der Finanzierung

Um Patenschaften zu ermöglichen, sind die gemeinnützigen Organisationen in der Regel auf Projektmittel angewiesen. Meistens sind es Stiftungen, die fördern, für einzelne Ziel­gruppen auch der Senat. Die Gelder werden zeitlich begrenzt vergeben, nicht selten für ein Jahr. Bei Anträgen ist man gehalten, neue Schwerpunkte und/oder Zielgruppen einzubeziehen. Doch Patenschaftsarbeit muss nicht immer neu ausprobiert werden. Der Bedarf ist immer vorhanden und wird es leider bleiben. Daher sollte sie eine Dauereinrichtung sein, so wie Schule oder Sportangebote auch. Zudem wissen wir, dass Mentoring und Patenschaften und Organisationen, die diese vermitteln und begleiten, umso wirkungsvoller werden, je länger sie bestehen.

 

Hinzu kommt, dass Finanzierungen bislang oft unzureichend ausfallen. Fachliche Einschätzungen gehen von einem Bedarf von ab 1.500 Euro pro Tandem pro Jahr aus, abhängig von der Zielgruppe kann dieser sogar noch höher sein. Die Autor*innen der oben erwähnten Studie werten dies als nicht viel Geld für eine „kosteneffektive“ Maßnahme, wenn man es dem zu erzielenden individuellen wie kollektiven ökonomischen Effekt einer höheren Bildung gegenüberstellt. Hier zu bedenken: Es gibt aktuelle staatliche Förderprogramme für Mentoring und Patenschaften, die nur ein Fünftel dieses Richtwerts bezahlen.

 

Vielen Vereinen und Trägern gelingt es, Spenden einzuwerben. Allerdings ist dies meist ein kaum vorhersehbares, aufwändiges Geschäft, in der Regel allenfalls geeignet zur ergänzenden Finanzierung.

 

Der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann von der Hertie School of Governance in Berlin sagte in einem Interview:

 

„Das Mentoring muss aus der Projektfinanzierung heraus und in die strukturelle Dauerfinanzierung hinein.“ Deshalb solle man den Ansatz „auf die höchste politische Ebene heben und dort deutlich machen, welche Effekte schon erzielt worden sind“. 

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Politische Forderungen zu besseren Rahmenbedingungen für Mentoring-&Patenschaften in Berlin
Pressemitteilung anlässlich unserer Demonstration am 19.September 2020 mit einer Darstellung der aktuell prekären Situation vieler Programme trotz überzeugender Befunde für die Wirksamkeit des Ansatzes zur Abmilderung der Folgen sozialer Ungleichheit. (September 2021)
PM_Tandemdemo_2020_KIPA.pdf
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Policypaper der Mentoringförderorganisation Eleven
Schlussfolgerungen für die Politik aus einer fundierten Wirkungsstudie zum größten Mentoringprogramms Deutschlands Balu und Du: Mentoring ist eine wissenschaftlich evaluierte, wirksame Intervention, die mit einem Bruchteil des bereits zur Verfügung stehenden Geldes Chancenungleichheit durch Unterschiede in der Prosozialität ausgleichen könnte. (Februar 2021)
eleven_policy_paper_mentoring.pdf
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Positionspapier des Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin
Argumente für eine bessere Anerkennung des Engagements und Stärkung der Rahmenbedingungen für hauptamtliches Freiwilligenmanagement und Freiwilligen-koordination.. (September 2021)
2021_09_20_Empfehlungen_StarkesEngagemen
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Foto-Impressionen zur Tandem-Demo am 19.09.2020

Die Aktion wurde aus Mitteln der LOTTO-Stiftung Berlin und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes LV Berlin finanziert.

Danke an das Engagement aller Mitwirkender!